Anlässlich der bevorstehenden TV-Premiere unseres neuen Köln-Tatorts „Abbruchkante“ (am 26. März im Ersten) haben wir für die Aachener Zeitung mit dem Medienjournalisten Tilmann P. Gangloff über den Film und die Situation auf dem deutschen Fernsehmarkt gesprochen:
Gangloff: Ein WDR-„Tatort“, der im rheinischen Braunkohlerevier spielt: War das nicht schon lange überfällig?
Eva Zahn: Um ehrlich zu sein: Tatsächlich ist unser Krimi nicht der erste dieser Art. In „Schürfwunden“ aus dem Jahr 2006 haben Ballauf und Schenk schon einmal im rheinischen Tagebaugebiet ermittelt, aber damals ging es um eine komplett andere Geschichte.
Volker A. Zahn: Davon abgesehen: Mit Blick auf die Vehemenz der klimapolitischen Diskussionen der letzten Zeit – Stichwort: Lützerath – war ein Film wie „Abbruchkante“ in der Tat überfällig; erst recht für uns als Autorenpaar, das in Köln lebt und gerne auch gesellschaftspolitisch relevante Geschichten erzählt.
Wie haben Sie das Drehbuch entwickelt?
EZ: Wir kommen beide aus dem Journalismus und recherchieren immer intensiv, bevor wir schreiben: In diesem Fall waren wir mehrfach in der Gegend rund um den Tagebau und haben mit den Menschen vor Ort gesprochen.
War es schwierig, den WDR von dem Thema zu überzeugen?
VAZ: Nein. Der Köln-Tatort steht ja schließlich für Themen, die die Menschen bewegen.
Gab es die Bedingung, dass Sie RWE nicht beim Namen nennen dürfen? Im Film ist immer nur von dem „Konzern“ die Rede.
EZ: Nein, die Nennung von Produkt- und Firmennamen ist in öffentlich-rechtlichen Fernsehfilmen und Serien eher unüblich. Außerdem erzählt der Film auch ganz generell von den Folgen einer profitgetriebenen Politik gegen Mensch und Natur, ein Problem, das nicht nur das rheinische Revier betrifft.
Neben der Krimihandlung lebt der Film vor allem von den einzelnen Schicksalen: ein altes Ehepaar, das sich umbringen will, ein Vater, dessen Tochter im Rahmen der Proteste tödlich verunglückt ist. Sind diese Geschichten authentisch?
VAZ: Sagen wir mal so: Wir sind bei unseren Gesprächen auf einige Schicksals- und Konfliktlinien gestoßen, die wir fiktionalisiert haben.
EZ: Besonders beeindruckt haben uns dabei die traurigen Geschichten älterer Menschen, die aus dem Dorf, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben, vertrieben wurden. In diesem Zusammenhang war auch Suizid ein Thema.
VAZ: Auch für den Arzt, der in unserem Krimi zum Mordopfer wird, gibt es Vorbilder. RWE hat in den Dörfern, die umgesiedelt wurden, gezielt nach Menschen mit hohem Ansehen gesucht. Honoratioren oder lokale Promis, gut vernetzte Multiplikatoren, die in der Bürgerschaft Überzeugungsarbeit im Sinne einer reibungslosen Umsiedlung leisten sollten.
EZ: Die Umsiedlung bedeutete ja immer auch einen fundamentalen Lebensbruch. Da wurden Menschen genötigt, essentielle Entscheidungen für sich und ihre Familien zu treffen: Beuge ich mich, oder leiste ich Widerstand? Kann ich es meinen betagten Eltern noch zumuten, am Lebensabend verpflanzt zu werden? Will ich verantworten, dass meine Kinder in einem verlassenen Dorf ohne Infrastruktur aufwachsen? Über solche Fragen sind Ehen und Freundschaften zerbrochen, viele Familien haben sich entzweit. Im Verlauf unserer Gespräche haben wir erkannt, dass hier nicht nur die Landschaft rücksichtslos ausgebeutet wurde. Viele Menschen sind aufgrund eines wirtschaftlich motivierten und politisch besiegelten Schicksals in einen permanenten psychischen Ausnahmezustand versetzt worden. Das hat teilweise zu enormen seelischen Verwüstungen geführt.
Über dem Film liegt eine Stimmung, die an die David Lynchs klassische Serie „Twin Peaks“ erinnert. War das Ihre Idee?
VAZ: Ja, und zum Glück hatten wir mit Regisseur Torsten C. Fischer einen tollen Kreativpartner, der unsere Vision geteilt und unsere Geschichte großartig in Szene gesetzt hat. Als wir zum ersten Mal in die Tagebaugegend gefahren sind, hat uns die Atmosphäre umgehauen: Wunderbare Vierkanthöfe, tolle historische Wohnhäuser, prächtige Kirchen, wunderschöne Gärten: dem Untergang geweiht. Ganze Wohnstraßen mit Eigenheim-Träumen aus dem letzten Jahrhundert: verrammelt, vergammelt, teilweise demoliert. Dazwischen die wenigen Widerständler, die geblieben sind und versuchen, ein normales Leben in einer nicht normalen Umgebung zu führen. Der Sicherheitsdienst, der mit seinen Pick-ups im Auftrag von RWE durch die Dörfer patrouilliert. In diesen Geisterdörfern herrscht eine Stimmung, wie wir sie bis dahin nur aus Filmen kannten. Es war uns sehr wichtig, diese Atmosphäre zu vermitteln.
Warum wird auch Max Ballauf von dieser Stimmung erfasst?
EZ: Im Braunkohlerevier und im Schicksal seiner Bewohner spiegelt sich Ballaufs eigenes Lebensgefühl, die Verlorenheit und Orientierungslosigkeit der Menschen dort löst etwas in ihm aus. Anders als Schenk, der in Köln und seiner Familie fest verwurzelt ist, fühlt sich der „Lonesome Wolf“ Ballauf den Menschen im Revier auf seltsame Weise verbunden, vor allem der von der großartigen Barbara Nüsse gespielten Pensionswirtin.
Inklusive vieler Serienfolgen haben Sie vermutlich weit über hundert Krimis geschrieben. Wie schwierig ist es, sich immer wieder neu zu erfinden?
VAZ: Das ist eine echte Herausforderung, erst recht, wenn man es mit Figuren zu tun hat, die seit mittlerweile über 25 Jahren gemeinsam ermitteln. Trotzdem suchen wir jedes Mal nach Möglichkeiten, um mit den herkömmlichen Erzählmustern zu brechen, und das geht mit einem „Auswärtsspiel“ wie in diesem Fall natürlich besonders gut.
Bedauern Sie es, dass sich gesellschaftlich relevante Stoffe bei ARD und ZDF fast nur noch als Krimi unterbringen lassen?
EZ: Einerseits ja; es ist mittlerweile sehr schwierig, gesellschaftlich und politisch relevante Themen als Fernsehfilm zu erzählen. Andererseits ist der klassische Themenfilm in seiner vielfach wiederholten und nur begrenzt variierten Machart zu Recht nicht mehr en vogue.
VAZ: Wir leben zwar nicht schlecht von unseren Krimis, aber wie viele Kolleg*innen sehnen wir uns danach, Geschichten jenseits von Mord & Totschlag oder Herzschmerz zu erzählen. Aber das lineare Fernsehen ist nach wie vor von einer erschreckenden Genrearmut geprägt. Andererseits haben wir große kreative Power hierzulande, massenhaft Topleute für Drehbuch, Regie und Produktion, aber dieses Potential wird fürs lineare TV leider nicht angemessen ausgeschöpft.
Was ist mit den Streamingdiensten?
EZ: Sie haben auf jeden Fall neuen Schwung in die hiesige Fernsehlandschaft gebracht; ARD und ZDF haben sich in den letzten Jahren ja zum Glück etwas bewegt. Aber bei Netflix, Amazon und Co. stößt man mit unbequemen oder kontroversen Themen ebenfalls an Grenzen, da geht es dann – aus rein kommerziellen Gründen und mit Blick auf die internationalen Märkte – darum, was man dem Publikum weltanschaulich oder moralisch zumuten kann.
VAZ: Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum wir mit unserer satirischen Serie „Brüder im Nebel“, die wir mit der Produktionsfirma Zeitsprung Pictures entwickelt haben, bei den Streamern nicht landen konnten. Zu dieser Geschichte haben uns die bizarren Vorgänge im Kölner Erzbistum rund um die Kardinäle Woelki und Meisner im Umgang mit Missbrauchstätern inspiriert. Und mit der Religion ist das halt immer so eine Sache…
Haben Sie Grund zur Hoffnung, dass sich die Rahmenbedingungen in absehbarer Zeit ändern werden?
VAZ: Ja, wir sehen schon jetzt positive Ansätze, vor allem in den Produktionen für die Mediatheken, da wird der Genrefächer mit einer Menge vielversprechender Formate breiter aufgemacht. Wir haben für Westside Film und den WDR in Zusammenarbeit mit der Kripo Köln eine Serie unter dem Arbeitstitel „EG Hoffnung“ entwickelt, es geht darin um sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Im Mittelpunkt stehen Ermittler*innen, die sich tagtäglich durch beschlagnahmtes Datenmaterial von Missbrauchstätern kämpfen, um Kinder zu befreien. Eine echte Heldengeschichte also, aber alles andere als ein Mainstream-Krimi. Wir arbeiten seit über zwei Jahren an diesem Herzensprojekt, und glauben, dass es sehr gut in die ARD-Mediathek passen wird. Zumal uns der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung bereits signalisiert hat, dass er die Serie gerne mit einer groß angelegten Kampagne begleiten würde.
Originaltext abrufbar unter: https://www.aachener-zeitung.de/kultur/koelner-tatort-vom-rand-des-tagebaus-garzweiler_aid-86695269